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1961: Solidarität nach dem Mauerbau

Der erste Besuch Willy Brandts in Schweinfurt am 29. August 1961 fand unter spektakulären Umständen statt: Knappe zwei Wochen zuvor, am 13. August, hatte die DDR-Führung im Handstreich die Mauer durch Berlin errichtet. Brandt war es drei Tage nach dem Mauerbau gelungen, in einer eindrucksvollen Rede die aufgewühlten Gefühle der Westberliner zu kanalisieren und sie von unüberlegten Aktionen gegen den Ostteil der Stadt abzuhalten. Viele in Berlin und der Bundesrepublik waren von der Untätigkeit der USA und dem Abtauchen von Bundeskanzler Konrad Adenauer enttäuscht, der sich zunächst weigerte, in die bedrängte Stadt zu kommen.

 

Die Schlagzeilen der Schweinfurter Zeitungen spiegeln die großen Hoffnungen wieder, die den Auftritt Willy Brandts auf dem Marktplatz begleiteten. (Scan: Steinmüller)

Brandt befand sich in den dramatischen Augusttagen als Kanzlerkandidat der SPD mitten im Bundestagswahlkampf. Er galt als der „deutsche Kennedy“ und damit als krasses Gegenstück zum 85-jährigen Adenauer. In der aufgeheizten Atmosphäre nach dem Mauerbau, in der ein dritter Weltkrieg drohte, landete Willy Brandt am 29. August gegen 19 Uhr mit einer zweimotorigen Propellermaschine auf dem Flugfeld der Conn-Kaserne, wo er von einer Schweinfurter Delegation unter Leitung von OB Georg Wichtermann empfangen wurde.

„Wir standen vor dem Brauhaus. Auf dem Marktplatz drängten sich die Menschen Ich erinnere mich, wie Willy Brandt am Ende seiner Rede dem damaligen Bundeskanzler Adenauer einen ,schönen Lebensabend´ wünschte.“                             Traudel Steinmüller

Im offenen Wagen mit der Berliner Standarte fuhr Brandt zusammen mit dem SPD-Bundestagskandidaten Walter Langebeck mit kurzem Zwischenstopp bei der SPD in Niederwerrn zum SKF-Gästehaus in der Altstadtstraße, wo Brandt von Konsul Gunnar Wester, dem damaligen Vorsitzenden der SKF-Geschäftsführung, empfangen wurde. Über den Empfang durch die Bevölkerung schrieb die Lokalzeitung: „Auf der Fahrt zum Marktplatz wurde der Regierende Bürgermeister bereits in der Rückertstraße von einer dicht gedrängten Menschenmauer mit Beifall begrüßt. Was man auf dem Marktplatz sah, übertraf alle Erwartungen. So viele Menschen hatte es hier noch bei keiner Kundgebung gegeben. Zehntausende standen dort und empfingen Willy Brandt mit einer Welle der Begeisterung (...).“

Auf der Bühne unter dem Rückertdenkmal überreichte der Landtagsabgeordnete Oskar Soldmann dem Gast ein SKF-Kugellager „als Symbol der Präzisionsarbeit des Schweinfurter Arbeiters“, wie ein Journalist zu berichten wusste. Von OB Wichtermann erhielt Brandt einen Teller mit dem Stadtwappen, den dieser im Turm des Schöneberger Rathauses aufzuhängen versprach. In seiner Rede kündigte Brandt an, die aktuelle Lage mache es ihm unmöglich, einen „frisch-frohen Wahlkampf“ zu führen. Er werde Konrad Adenauer in diesem Wahlkampf nicht angreifen, sondern wünsche ihm einen geruhsamen Lebensabend. Trotzdem ging Brandt den Bundeskanzler hart an: „Der alte Herr erfasst die Situation nicht mehr. Er denkt auch jetzt noch in parteipolitischen Größenordnungen, wo es in Berlin um den Angriff auf das ganze deutsche Volk geht.“

Die Wähler der Bundesrepublik dankten Willy Brandt seinen Einsatz im Wahlkampf und für Berlin: Knapp drei Wochen nach dem Auftritt in Schweinfurt erhielt die SPD bei der Bundestagswahl 36%, vier Prozentpunkte mehr als im Jahr 1957.